Gemeinsam eine neue Basis schaffen
Knapper Frachtraum, fehlendes Fach- und Fahrpersonal, sinkende Sendungsgrößen, steigende Energiekosten. Dazu noch die ständig wachsende Komplexität und der schon obligatorische Boom des Internet-Handels. Solche oder benachbarte Themen fordern derzeit ein Höchstmaß an Kreativität von den Unternehmen der europäischen Transportbranche.
Fakt ist zunächst, dass selbst der engagierteste Logistiker wenig bis keinen Einfluss auf den überwiegenden Teil dieser Entwicklungen und Trends hat. Aber heißt dies perspektivisch eher den Mangel verwalten zu müssen, als in einem der wichtigsten und dynamischsten Dienstleistungssektoren unserer Tage nachhaltig erfolgreich zu sein? Nun, alternativ könnte die Situation ein Anlass sein, etwas intensiver über grundlegende Veränderungen nachzudenken, welche die Branche aus eigener Kraft voranbringen könnten.
Begeben wir uns zu diesem Zweck zunächst auf eine kleine Zeitreise in längst vergangene Tage.
1984: Familie Sonnenschein saß an einem Sonntagabend gemütlich zusammen und stöberte gemeinsam im knapp 1000 Seiten starken Katalog eines Versandhauses. Neben diversen Kleidungsstücken für die kommende Saison wurde auch eine neue Waschmaschine ausgesucht. Die sorgsam notierte Bestellung gab Mutter Sonnenschein dann am nächsten Morgen fernmündlich auf.
Am Donnerstag der darauf folgenden Woche wurde die Lieferung der Waschmaschine vom lokalen Rollfuhrunternehmer mit einer freundlichen Postkarte und mit drei Tagen Vorlauf angekündigt, damit sich einerseits die Sonnenscheins aber auch die Tourenplanung bei der Spedition entsprechend darauf einrichten konnten. Unser Musterspediteur erhielt die Daten dazu am Vorabend des Sendungseingangs per DFÜ. Zu jener Zeit übrigens eine echte Neuerung und Arbeitserleichterung. Wenige Wochen vorher mussten die Daten zu den eingehenden Sendungen noch allmorgendlich anhand der den LKW begleitenden Ladelisten manuell erfasst oder von Diskette eingelesen werden. Erst danach konnte die eigentliche Disposition beginnen.
Vater Sonnenschein nahm am avisierten Tag der Lieferung einen halben Tag frei und rekrutierte noch nachbarschaftliche Hilfe zum Tragen und Anschließen des neuen Geräts.
Der Tag der Anlieferung kam, die neue Waschmaschine wurde „an die Bordsteinkante“ geliefert und die Dinge nahmen ihren geplanten Lauf. Für die Entsorgung des Altgeräts wurde der nächste Sperrmüll anvisiert.
“Und wie geht neue Waschmaschine heute?”
2014: Susi Sonnenschein, übrigens eine Enkelin des eben erwähnten Vaters Sonnenschein, kann drei Jahrzehnte später einen fast stundengenauen Wunschtermin für die Lieferung Ihrer Hausgeräte wählen, die Montage und die Entsorgung des Altgeräts gleich mit beauftragen und somit erreichen, dass sich die gesamte Transport- und Service-Kette exakt nach ihren Bedürfnissen richtet. Bestellt und bezahlt wird natürlich online, an jedem Wochentag, zu jeder Zeit und ganz bequem vom heimischen Internet-Anschluss aus oder auch von unterwegs, irgendwo zwischen „What’s App“ und „Selfie“ via SmartPhone.
Diese heute beinahe selbstverständliche Dienstleistungsstafette erfordert eine zwischen den Beteiligten exakt synchronisierte Prozesskette und die dazu passende IT-Unterstützung, auch und gerade bei den für die letzte Meile zuständigen Spediteuren und Dienstleistern.
Während sich die produzierende Industrie, der Internet-Handel und viele Service-Unternehmen weitestgehend auf das aktuelle Service-Szenario eingerichtet haben, bleiben in der Transport-Logistik Optimierungs-Potenziale oft brachliegen.
Als kleiner Beleg dafür die folgende Frage: „Wann erhält der oben erwähnte Rollfuhrunternehmer (inzwischen in der 3. Generation) heutzutage im Normalfall seine EDI über die morgendlichen Eingangsmengen?“
Dass die Antwort darauf (wie vor 30 Jahren) „Am Vorabend des Sendungseingangs.“ lautet, ist im Hinblick auf die aktuellen logistischen Anforderungen und die heutigen technischen Möglichkeiten zunächst ziemlich ernüchternd.
Auf der anderen Seite ist es bewundernswert, dass – trotz solcher Handicaps – an jedem Tag und mit einer sensationellen Quote, Waren Ihren Empfänger pünktlich und wunschgemäß erreichen. Mit welchem Aufwand und zu welchen Kosten dies allerdings geschieht, ist den wenigsten Außenstehenden transparent.
“Aha, neue IT-Systeme müssen also her, oder?”
In der Diskussion über eine mögliche Optimierung der Planungsabläufe und bessere Produktionsbedingungen in der Logistik, werden häufig zuerst Unzulänglichkeiten bei den eingesetzten IT-Systemen genannt, was aber nur zum Teil zutrifft, wenn man etwas intensiver hinter die Kulissen schaut.
Die Kernprozesse, die seit Jahrzehnten nicht angepasst wurden, sind bei näherem Hinsehen eigentlich das größere Manko. Selbst sinnvolle technische Neuerungen wurden in der Vergangenheit oft nur dazu eingesetzt, bestehende Abläufe zu veredeln, statt diese effektiver zu gestalten.
Ähnliches gilt auch ganz aktuell für die vielen Projekte, die eine B2C-Integration im Speditionsumfeld vorantreiben sollen. Wieder einmal sind es zu neudeutsch „Add-ons“, die es richten sollen. Diese kleinen, gut gemeinten Helferlein sorgen leider in den meisten Fällen nur für noch komplexere Prozesse und IT-Anwendungen, ganz zum Leidwesen der ohnehin schon stressgeplagten Sachbearbeiter. Was wohl passiert, wenn neben B2C auch noch C2B oder C2C an Bedeutung gewinnen? Nein, darüber möchte man wirklich nicht ernsthaft nachdenken.
“Ok, soweit klar. Aber wo könnte dann ein Lösungsansatz sein?”
Ein erster wichtiger Schritt wäre, relevante Informationen und Daten nicht mehr unnötig zurückzuhalten, sondern zum Zeitpunkt Ihrer Entstehung und vor allem in geeigneter Form, allen Beteiligten nutzbar zu machen. Aus technischer Sicht schon lange problemlos möglich, würde schon dies allein in der speditionellen Praxis völlig neue Planungshorizonte, Produktionsabläufe und Geschäftsfelder ermöglichen.
Dann wären zunächst die Prozess- und Produktionsverantwortlichen gefragt. Mit dem gewonnenen Zeit- und Informationsvorsprung, einer guten Portion Pioniergeist und dem festen Willen, Veränderungen aktiv zu gestalten, sollte es gelingen, eine neue Basisstruktur zu entwerfen, die keine „Add-ons“ benötigt, um die grundlegenden Anforderungen an agile und zukunftsorientierte Logistik-Systeme zu erfüllen.
Sinnvollerweise kommen erst an dritter Stelle die Software-Produzenten und IT-Systemanbieter zum Zuge. Auch hier wird an vielen Stellen ein Umdenken notwendig sein, um den Projekterfolg nicht durch gewachsene Strukturen zu erschweren bzw. zu verkomplizieren. „Weniger ist mehr“, könnte hier die Devise lauten. In jedem Fall aber transaktionsorientiert und komplexitätsreduziert.
Wenn sich am Ende noch ein ausreichend großes Konsortium von innovationsbereiten Unternehmen und Organisationen fände, um einen solchen Weg gemeinsam zu beschreiten und neue Standards in der Branche zu etablieren, rückten auch anspruchsvolle Ziele schneller in erreichbare Nähe. Neben der Verteilung der Projektlast auf viele Schultern, braucht es traditionell im speditionellen Mittelstand immer ausreichend Hubraum, um kreativen Konzepten den notwendigen Schwung zu geben und diesen auch dauerhaft zu erhalten.